Beharrliche Präsenz statt strafende Macht. Einführung in die Neue Autorität

Autorin: Rebecca Giersch

Was tun, wenn es zu körperlicher, verbaler oder psychischer Gewalt kommt, Grenzen überschritten werden und Eskalationen zum pädagogischen Alltag gehören?

Mit Blick auf aktuelle Empfehlungen zur Beziehungsgestaltung zwischen Pädagog:innen und Kindern bzw. Jugendlichen wird vor allem das Verhalten der Erwachsenen in den Blick genommen. Wie kann ich als Pädagog:in einen verlässlichen und sicheren Raum gestalten, in dem sich alle Beteiligten mit Wertschätzung, Respekt, Freundlichkeit und Offenheit auf Augenhöhe begegnen können? In Folge der Bindungstheorie, die mittlerweile vor allem im Baby- und Klein(st)kindbereich zum pädagogischen Grundwissen gehört, wurde die Relevanz von sicheren Beziehungen für die nachhaltige Gestaltung der Entwicklungs- und Lernprozesse schließlich neurowissenschaftlich, psychologisch und aus pädagogischer Sicht umfassend belegt. Zahlreiche Ratgeber, Blogs und Expert:innen leiteten daraus konkrete Handlungsempfehlungen ab.

Für manche Pädagog:innen fehlt dabei jedoch der Blick auf besonders schwieriges Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Im pädagogischen Alltag begegnen wir nicht nur fröhlichem Kinderlachen, Wärme und Leichtigkeit, die einer wertschätzenden, empathischen und respektvollen Grundhaltung in die Hände spielen.  Neben den üblichen Herausforderungen, die systembedingt oder strukturell für Pädagog:innen existieren (Betreuungsschlüssel, mangelnde Pausen, Vergütung, Gruppengröße, Ressourcen, fehlende Wertschätzung etc.), gibt es auch immer wieder extreme Situationen mit Kindern, die Hilflosigkeit, Stress, Frust und Angst auslösen können. Seien es Kinder, die sich nicht an Absprachen halten oder gelingende Gruppenprozesse zum Erliegen bringen, die regelmäßig Gegenstände zerstören, andere Menschen anschreien, beleidigen, mobben, schlagen, treten, anspucken, sich komplett zurückziehen oder in eine totale Verweigerungshaltung gehen. Wie kann ich einem Kind auf Augenhöhe begegnen, dass mich wiederholt beleidigt hat, dass anderen droht und handgreiflich wird? Wie kann ich wertschätzend bleiben, wenn Gegenstände absichtlich zerstört werden und gewalttätige Handlungen vollzogen werden, sodass andere verletzt werden und Angst haben? Wie kann ich in Beziehung treten, wenn es keinerlei Verbindung mehr gibt und ich mich dauerhaft durch ständige Störungen ohnmächtig erlebe? Gelingt eine wertschätzende, empathische Beziehung auf Augenhöhe also nur, wenn es keine (nennenswerten) Konflikte gibt?

Zunächst wird in solchen Konfliktsituationen meist auf bekannte Strategien zurückgegriffen: Ignorieren, Gesprächsversuche, Ermahnungen, Benotung, schließlich Strafen in Form von Zusatzaufgaben, Entzug von Annehmlichkeiten, Ausschluss aus Aktivitäten bzw. Isolation.  

Ignorieren funktioniert bei kleineren Störungen, darüber hinaus jedoch nicht, weil das Verhalten des Kindes systemisch betrachtet durchaus funktional ist. Es kann also eher verstärkend wirken und zu einer noch massiveren Störung führen, bis „endlich“ eine Reaktion erfolgt.  Bei dem Versuch, in ein gemeinsames Gespräch zu gehen, hängt es stark von der Zielstellung ab. Möchte ich um Einsicht des fehlerhaften Verhaltens bitten oder gar Appelle und Drohungen aussprechen: „Wenn du nicht, dann…?“, so werden die Fronten eher verhärtet und es findet kein konstruktiver Dialog statt. Gerade in Konfliktgesprächen mit Kindern, die sich unserer Kontrolle entziehen, schweigen, sich nicht anpassen oder keine Besserung geloben, ist es schwer, dies anzunehmen und wertschätzend zu bleiben. Erlebte Hilflosigkeit und Ohnmacht können dann auch zu Frust, moralischen Bewertungen und Ärger werden. Doch selbst wenn sich das Kind einsichtig zeigt, kann es deswegen nicht auch automatisch das eigene Verhalten gezielt ändern. Hier kann ein lerntheoretischer Blick hilfreich sein, denn von der Selbstbeobachtung zur tatsächlichen Selbstveränderung bedarf es einiger Zwischenschritte und viel Zeit. Dabei kann es nützlich sein zunächst zu bestimmen, ob das Kind das Verhalten selbst schon wahrnimmt und noch nicht steuern kann oder ob es gar nicht weiß, dass und wann es ein bestimmtes Verhalten zeigt.

Wenn im schulischen Kontext durch zusätzliche Leistungssituationen, unangekündigte Tests oder Mitarbeits- und Verhaltensnoten versucht wird, dem störenden Verhalten zu begegnen, dann ist dies aus mehrfacher Hinsicht problematisch. Abgesehen davon, dass nicht unbedingt der gewünschte Effekt einer schlechten Note als Erziehungsmaßnahme eintritt, weil die störende Person nicht per se leistungsschwach ist, missbrauche ich als Pädagog:in meine Machtposition. Es handelt sich folglich um eine adultistische Verhaltensweise. Des Weiteren werden die fachliche Leistungsbeurteilung mit der Verhaltensbeurteilung so vermischt, dass die Fachnote letztlich als solche nicht aussagekräftig ist, sondern vielmehr ein Instrument der Strafe darstellt. Meist ist die Störung sowieso nicht fachlicher Natur. Für mich als Pädagog:in entsteht zusätzlicher Arbeitsaufwand. Wenn es sich um einen Test für die ganze Lerngruppe handelt, dann liegt eher eine Kollektivstrafe vor, die auch die Atmosphäre in der Lerngruppe negativ beeinflusst. Eine Beziehung auf Augenhöhe kann dadurch jedenfalls nicht entstehen. Ähnlich verhält es sich mit Zusatzaufgaben, die ich als Pädagog:in immer wieder neu erstellen und kontrollieren muss. Auf Seiten des Kindes bzw. Jugendlichen entstehen potentiell neue Störungsanlässe aufgrund des erlebten Misserfolgs und der damit zusammenhängenden Demütigung.

Der Einsatz von strafender Macht in Form von Ausschluss oder Entzug von Annehmlichkeiten zeigt sich kaum bzw. wenig wirksam im nachhaltigen Umgang mit Störungen. Auch hier liegt eine adultistische Verhaltensweise vor, denn für Strafe braucht es eine Hierarchie bzw. Machtungleichheit, in der der Erwachsene eine verurteilende Bewertung vornimmt und sich ermächtigt, den jungen Menschen zu bestrafen. „Du handelst falsch und musst dafür bestraft werden, damit du das Unrecht deiner Handlung einsiehst.“[1] Als Pädagog:innen fallen wir dann jedoch aus unserer natürlichen Autorität heraus, erhalten eher den Teufelskreis aus störendem Verhalten und Sanktionen aufrecht und erleben selbst Stress und Frust. Sanktionen durchzuhalten und durchzuführen erfordert Disziplin und Härte. Im Falle von Ausschluss und Isolation ergeben sich wieder neue Hürden der Aufsichtspflicht und Gruppenprozesse werden gestört. Als Pädagog:in komme ich dann eher in eine pseudojuristische Rolle anstatt pädagogisch auf die Zukunft ausgerichtet zu handeln. Die Selbstwirksamkeit aller Beteiligten und die Zufriedenheit werden weiter minimiert.

Statt aktiv Prozesse zu gestalten, bleibe ich als Pädagog:in in der Reaktion verhaftet und folge dem Muster „Mehr Desselben“.[1]  Druck erzeugt Gegendruck und so verhält es sich auch mit Hilflosigkeit, Wut oder Frust. Alle Beteiligten verharren in „bewährten Reaktionsmustern“[2] und halten den Regelkreis aus Störung und Sanktion aufrecht. Wenn es dann zu Demütigung, Ausgrenzung und seelischen Verletzungen im Rahmen des pädagogischen Handelns kommt, dann wird schließlich genauso Gewalt angewendet wie auf Seiten des Kindes bzw. Jugendlichen.  Das Gehirn unterscheidet nicht zwischen seelischem Schmerz durch Herabsetzung, Demütigung, Zurückweisung und Ausgrenzung und körperlichem Schmerz, weil sie auf „denselben neuronalen Strukturen […] [beruhen]“.[3] Neben der Ohnmacht und Angst, dieser Gewalt zu begegnen bzw. zu entgehen, folgen ein erhöhtes Stresserleben, Krankheit und Gegengewalt. Dabei zerbricht Gewalt an sich selbst[1] und Angst und Frust werden zu dauerhaften Begleitern im Alltag.

Schließlich gerät der Lern- und Entwicklungsprozess aller beteiligten Kinder aus dem Blick. Für erfolgreiche Lernprozesse braucht es die anfangs erwähnte Sicherheit und  Verlässlichkeit sowie ein angenehmes Klima. Doch wenn es zu Gewalt, Druck und unzuverlässigen Strukturen kommt, dann wird Lernen gehemmt. Auch hier wird der Teufelskreis aufrecht erhalten, denn fehlende Lernfortschritte führen potentiell wieder zu mehr Druck und Angst.

Es bleibt die Frage,  ob und wie auf Herausforderungen im kindlichen Verhalten wertschätzend, respektvoll und klar reagiert werden kann. Ein erster wichtiger Schritt kann es sein, das Verhalten von der Person und den dahinter liegenden Motivationen zu trennen. Aus Sicht des Kindes hat es nämlich seine guten Gründe sich so zu verhalten und versucht sich mithilfe äußerst ungünstiger und teilweise gefährlicher Strategien grundlegende Bedürfnisse zu erfüllen. Indem ich mir bewusst mache, dass sich das Kind in großer Not nicht anders zu helfen weiß, um in Kontakt zu kommen, Anerkennung zu erhalten oder gesehen zu werden, kann ein Blick auf den bedingungslos wertvollen Menschen hinter gewalttätigem und zerstörerischem Verhalten möglich werden. Dabei kann beispielsweise die Gewaltfreie Kommunikation nach M. Rosenberg eine Orientierungs- und Formulierungshilfe sein.

Gleichzeitig ist es wichtig, als Pädagog:in aus dem Teufelskreis auszusteigen und (wieder) aktiv die Verantwortung für die Qualität der Beziehung und der Entwicklungsprozesse zu übernehmen. Besonders hilfreich ist dabei der systemische Ansatz der Neuen Autorität nach Haim Omer und Arist von Schlippe.[2] Ursprünglich für hoch eskalierte Familiensysteme als Elterncoaching entwickelt, ist dieser Ansatz in jeglichen pädagogischen Bereichen hilfreich, bei dem es darum geht, auf der Grundlage einer humanistischen Haltung bei besonders herausforderndem Verhalten zu agieren und zunächst wieder Schutz und Sicherheit zu ermöglichen. Der Ansatz zielt darauf ab, die Präsenz der Erwachsenen und damit ihre Selbstwirksamkeit zu stärken, damit sie Verantwortung übernehmen können und dauerhaft in Kontakt mit sich und den Kindern und Jugendlichen bleiben. So wird bspw. ein Unterstützungsnetzwerk als wohlwollende Öffentlichkeit etabliert, um aus dem Zweikampf- oder Einzelkämpfermodus herauszukommen. Statt unmittelbar und unüberlegt auf Störungen zu reagieren, werden Maßnahmen transparent, beharrlich und verantwortungsbewusst ergriffen. Statt Bestrafung werden Wiedergutmachung und Versöhnung angestrebt. Damit alle Beteiligten auf Augenhöhe bleiben, gibt es auf allen Ebenen Partizipationsangebote.

Der Ansatz der Neuen Autorität bietet nicht nur eine hilfreiche Reflexionsgrundlage, sondern vor allem konkrete Handlungsoptionen und einen pädagogischen Leitfaden, um tatsächlich wertschätzend, respektvoll und klar mit Herausforderungen im Alltag mit Kindern und Jugendlichen selbstwirksam und nachhaltig umzugehen.

Quellen:

[1] Vgl. Bendler, Sören/ Heise, Sören (2018): Gewaltfreie Kommunikation in der Sozialen Arbeit. Göttingen. S. 154ff.

[1] Vgl. Palmowski, Winfried (2000): Anders handeln. Lehrerverhalten in Konfliktsituationen. Ein Übersichts- und Praxisbuch. Berlin. S. 54f.

[1] Ebd. S.57.

[1] https://www.uni-mannheim.de/forschung-erleben/artikel/der-koerper-heilt-schneller-als-die-seele/ am 22.3.2021

[1] Laotse, vermutlich 6.Jh. v. Chr., Kapitel 42. vgl. https://beruhmte-zitate.de/zitate/135157-laotse-gewalt-zerbricht-an-sich-selbst/?page=2 am 21.3.2021

[1] VGl. zum Beispiel Omer, Haim/von Schlippe, Arist (2016): Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und gemeinde. Göttingen.

Beharrliche Präsenz statt strafende Macht. Einführung in die Neue Autorität